Wie halte ich einen Seminarvortrag?
von Prof. Dr. Manfred Lehn (Mainz)
Ein Seminarvortrag hat zwei Aufgaben. Zum einen soll der Vortragende etwas lernen, genauer: sich ein bestimmtes, mehr oder minder fest umrissenes mathematisches Thema aneignen und bearbeiten. Zum anderen sollen die anderen Seminarteilnehmer etwas lernen, indem der Vortragende sein erworbenes Wissen in sozusagen vorgekauter Form weitergibt. Den Dozenten davon zu überzeugen, daß man einen Schein verdient hat, gehört dagegen nicht zu den Zielen eines Vortrages. Der Schein ist allenfalls ein Nebeneffekt. Nehmen Sie sich das bitte zu Herzen, besonders dann, wenn der Scheinerwerb tatsächlich Ihre wesentliche Motivation, überhaupt am Seminar teilzunehmen, sein sollte.
Ein mündlicher Vortrag hat Ausdrucksmittel, die allen schriftlichen Quellen abgehen. Ein guter Seminarvortrag, wie auch eine gute Vorlesung, ist sich dieser Möglichkeiten bewußt und setzt sie ein. Ein schlechter Vortrag ist organisierte Zeitvernichtung und grob unhöflich gegen die Hörer.
Im folgenden habe ich einige Dinge aufgeschrieben, die Ihnen bei der Vorbereitung und der Durchführung eines Seminarvortrages helfen sollen. Nicht alles, was ich hier zusammengetragen habe, wird ungeteilte Zustimmung finden. Andere werden andere Schwerpunkte setzen. Schließlich wird Ihnen manches selbstverständlich oder banal erscheinen. Denken Sie trotzdem einen Augenblick darüber nach. Nehmen Sie die Vorbereitung ernst und den Vortrag locker!
Wenn Sie sich auf einen Seminarvortrag vorbereiten, muß das auf zweierlei Weise geschehen: inhaltlich und vortragstechnisch. Es leuchtet ein, daß man einen guten Vortrag nur halten kann, wenn man verstanden hat, wovon man spricht. Daher ist eine gute inhaltliche Vorbereitung eine unabdingbare Voraussetzung für jeden Vortrag. Beginnen Sie rechtzeitig mit der Vorbereitung. Zwei Wochen vor dem Vortragstermin ist nicht rechtzeitig!
Zur inhaltlichen Vorbereitung
Was ist die Aufgabenstellung des Vortrags?
Vergewissern Sie sich im Gespräch mit dem Dozenten oder dem betreuenden Assistenten, daß Sie die Aufgabenstellung richtig verstehen und sich nicht etwa auf ein falsches Thema oder mit falschen Schwerpunkten vorbereiten. Manchmal kann man sinnvolle Fragen allerdings überhaupt erst stellen, wenn man sich wenigstens ein Stück weit in die Materie eingearbeitet hat. Wichtig ist auch die Frage, wie sich der Vortrag in den Gesamtzusammenhang des Seminars einbettet. Das kann etwa bei der Auswahl von Beispielen helfen.
Welche Literatur gibt es zum Vortrag?
Häufig orientiert sich ein ganzes Seminar oder ein einzelner Vortrag an bestimmten Büchern und Texten oder Abschnitten daraus. Versuchen Sie trotzdem, andere Literatur zum Thema zu finden und darin zu lesen, sobald Sie eine Idee haben, worum es geht.
Wie liest man mathematische Texte?
Wenn Sie in Ihrem Studium soweit sind, einen Seminarvortrag zu halten, haben Sie ja schon das eine oder andere Semester studiert und das eine oder andere Buch gelesen und wissen worauf es ankommt: Wenn Sie mathematische Texte lesen, so gibt es zwei Modi, in denen Sie vorgehen können: Aus der Vogelperspektive: Was sind die groben Linien? Was ist der Gegenstand des vorliegenden Textes? Was sind die zentralen Begriffe und Definitionen, was sind die zentralen Aussagen und Sätze? Was sind die groben Beweisstrukturen? Wozu macht man das alles? Aus der Froschperspektive: Wie wird es im Detail gemacht? Wie funktioniert ein Beweis? Wozu braucht man die Voraussetzungen im Satz? Was passiert, wenn man sie wegläßt? Zwischen diesen Modi müssen Sie häufig hin- und herwechseln. Man muß sich zuerst einen Überblick verschaffen, wo man eigentlich hinwill, sonst beißt man sich im erstbesten technischen Lemma fest und bleibt stecken. Bei der ersten Lektüre kann man alle Beweise überschlagen und sich auf die Aussagen der Sätze konzentrieren. Irgendwann kommt aber der Punkt, wo man auch die Sätze nicht mehr versteht, weil man kein Gefühl für die eingeführten Begriffe entwickelt hat. Dann wird es Zeit, sich auch die Beweise genauer anzuschauen. Hat man mehr technische Details verstanden, sollte man wieder etwas zurücktreten und sich erneut fragen, was der Gesamtzusammenhang ist usw. In angepaßter Form gilt das auch für die Art und Weise, wie man sich einzelnen Sätzen oder Beispielen nähert. Wenn Sie mit einem neuen Satz konfrontiert werden, können Sie sich etwa vor, nach oder auch während des Studiums seines Beweises Fragen der folgenden Art stellen: Was sind einfache Beispiele für den Satz (etwa Spezialfälle)? Was sind einfache Gegenbeispiele, wo bestimmte Voraussetzungen nicht erfüllt sind? Knüpft der Satz, oder der verwendete Begriff oder der Beweis, an bereits bekannte Dinge an? Gibt es ein charakteristisches Beispiel, an dem man alle wesentlichen Phänomene beobachten kann? Arbeiten Sie sich so in Kreisen in die Literatur zu Ihrem Vortrag (und seine Stellung im Seminar) ein.
Zur schriftlichen Ausarbeitung
Wenn Sie glauben, die Dinge grob verstanden zu haben, machen Sie sich an eine schriftliche Ausarbeitung. Dort sollten alle Dinge stehen, die mit dem Vortrag zu tun haben. Arbeiten Sie alle (!) Details ausführlich schriftlich aus. Das gilt insbesondere für alle Fragen vom Ach-so-ja,-ist-wirklich-trivial!-Typ. Wenn Sie über bestimmte Punkte stolpern, kann es sehr gut sein, daß die gleiche Frage plötzlich im Seminar wieder auftaucht.
Diese schriftliche Ausarbeitung braucht noch nicht sehr viel mit dem späteren Vortrag zu tun zu haben. Manchmal wird man im Vortrag Beweisschritte oder eher langweilige Rechnungen weglassen. Trotzdem sollten Sie gerade die Dinge, die Sie weglassen, umso sorgfältiger vorbereitet haben. Wenn Sie über einen ganz bestimmten Text vortragen sollen, so ist es noch keine Leistung, wenn Sie diesen Text verstehen und dann wörtlich an die Tafel schreiben, womöglich unter Beibehaltung der Numerierung der Lemmata. Lesen Sie den Text unter den folgenden Gesichtspunkten:
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Der Autor hat gar nicht recht. Glauben Sie ihm zunächst kein einziges Argument. Erstens stecken in mathematischen Texten immer wieder Fehler, selbst in Texten über Dinge, die man für völlig ausgewaschen hält. Zum anderen ist das ein einfacher psychologischer Trick, sich zum genauen Arbeiten zu zwingen.
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Der Gedankengang läßt sich abkürzen. Manchmal kann man Beweisgänge vereinfachen oder drastisch kürzen. Versuchen Sie das. Wenn es Ihnen gelingt, fragen Sie sich, warum der Autor nicht darauf gekommen ist. Manchmal liegt das daran, daß Ihre neue Abkürzung schlicht und einfach falsch ist. Aber wenn Sie dann den Fehler entdecken, werden Sie viel gelernt haben.
Ein Vortrag ist ein Vortrag und ein Buch ist ein Buch. Ein Text hat ganz andere Möglichkeiten als ein Vortrag und umgekehrt. Eine Beweisgliederung, die für einen Text konzipiert ist, der zum Beispiel zu blättern erlaubt, kann für einen Vortrag, dessen Rahmen durch die Aufnahmekapazität und das Kurzzeitgedächtnis der Hörer abgesteckt ist, völlig ungeeignet sein. Erfinden Sie eine neue. Sprechen Sie nie über Dinge, die Sie nicht verstanden haben. Die Versuchung ist groß. Aber es wird immer jemanden im Publikum geben, der ohne böse Absicht genau an den Stellen eine Frage stellt, wo das Eis dünn ist. Und wenn das vorkommt, geben Sie zu, daß Sie diesen Punkt nicht verstanden haben; es gibt dann vielleicht die Möglichkeit, die Frage im Plenum auszudiskutieren. (Wenn das natürlich häufig vorkommt, wird es wohl daran liegen, daß Sie sich nicht richtig vorbereitet haben.)
In dieser Vorbereitungszeit sollten Sie das Betreuungsangebot der Dozenten und Assistenten wahrnehmen. Natürlich können Sie nicht erwarten, daß Ihnen jedes Epsilon vorgerechnet wird, denn die Vorbereitung gehört wesentlich zu der zu erbringenden Seminarleistung. Andererseits ist es auch nicht sinnvoll, wochenlang allein über einem Problem zu brüten, das vielleicht nur auf einem einfachen Mißverständnis beruht. Insbesondere sollten Sie die Themenauswahl und die Rolle im Seminarzusammenhang mit Ihren Betreuern durchsprechen.
Zum eigentlichen Vortrag
Wenn Sie sich in Ihrem Thema heimisch fühlen, geht die Arbeit am Thema allmählich in die eigentliche Vorbereitung des Vortrags über. Dazu müssen Sie Ihr inzwischen reichhaltiges Wissen zu einem Vortrag verdichten. Nur einen kleinen Teil von dem, was Sie verstanden oder gelernt haben, werden Sie an der Tafel erklären können. Trotzdem müssen Sie immer noch etwas mehr wissen, im Falle von Rückfragen Details nachliefern können, oder ein Beispiel an der Hand haben usw.
Es gibt häufig vorkommende Stereotype:
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Der autistische Vortrag. Der Vortragende ist sich nicht bewußt, daß er nicht allein im Raum ist. Er spricht mehr mit sich und mit der Tafel als mit dem Publikum, und läßt das Publikum möglichst nicht am Vortrag teilhaben.
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Der Ich-weiß-was-Vortrag. Der Vortragende ist hauptsächlich daran interessiert, dem Publikum zu beweisen, daß er etwas gelernt hat. Er reiht die Begriffe, Sätze und Beweise wie Perlen aneinander, möglichst in atemberaubendem Tempo, hindert das Publikum aber an der Einsichtnahme in die Zusammenhänge, weil er ja dadurch sein Wissensmonopol verlieren würde.
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Der Null-Bock-Vortrag. Der Vortragende hat das Thema nicht verstanden und sich nicht vorbereitet. Er schindet Zeit, damit er zu den komplizierten Dingen am Ende nicht mehr kommt. Schlechte Formulierungen und unleserliche Schrift verhindern jeden möglichen Ansatz zu Zwischenfragen.
Ein guter Vortrag zeichnet sich von Anfang an dadurch aus, daß er sich als Vermittlung des Themas an das Publikum begreift und das Publikum in den Mittelpunkt stellt. Aus diesem Prinzip kann man alle anderen Grundsätze ableiten. Bei der Auswahl des Darzustellenden ist die zur Verfügung stehende Zeit und das Aufnahmevermögen des Publikums zu beachten. Grundsätzlich erscheint immer allen Vortragenden die Zeit zu knapp. Überziehen ist eine Todsünde. Im Zweifel müssen Sie kürzen. Kürzen Sie mit Überlegung! Welche Teile eines Beweises sind wichtig, weil sie gerade den Witz enthalten oder für das Gebiet typische Verfahren einüben, welche Teile sind unwichtig, weil sie in ähnlicher Form schon da waren oder ohne Verständnisverlust weggelassen werden können? Schneller Schreiben oder das schnelle Wechseln von Folien helfen nur dem Vortragenden, aber nicht dem Publikum. Denken Sie stets daran: Es geht nur ums Publikum, nicht um den Vortragenden! Der Vortragende wird danach beurteilt, wie sein Vortrag beim Publikum ankommt. Bedenken Sie beim Vortrag, daß Dinge, die Ihnen trivial erscheinen, nachdem Sie sich einige Wochen damit beschäftigt haben, für das Publikum noch lange nicht trivial sind, auch dann nicht, wenn Sie sie trivial nennen. Nennen Sie niemals Dinge trivial, die es nicht sind, sonst beleidigen Sie das Publikum.
Sprechen Sie zum Publikum. Die Tafel wird Ihnen immer nur die kalte Schulter zeigen. Wenden Sie sich an jeden einzelnen Zuhörer, suchen Sie Augenkontakt. Und reden Sie nicht zum Seminarleiter! Ihr Hauptadressat sind Ihre Kommilitonen. Sprechen Sie laut, ohne zu schreien. Reden Sie deutlich. Sie können Unsicherheiten nicht durch Nuscheln oder leises, schnelles Sprechen verdecken. Im Gegenteil. Überlegen Sie sich Ihr Tafelbild! Informieren Sie sich vor dem Vortrag, welche und wieviele Tafeln Ihnen zur Verfügung stehen. Überlegen Sie sich, wie Sie diese Tafeln einsetzen wollen. Planen Sie genau, welche Dinge Sie anschreiben wollen, und welche Dinge Sie nur mündlich erklären. An der Tafel müssen nicht immer vollständige deutsche Sätze stehen. Das kann sehr mühsam und umständlich sein. (Die Formulierung “Wir definieren eine … als” innerhalb einer Definition ist vollkommen überflüssig). Sinnvoll eingesetzte symbolische Notation kann viel schneller wahrgenommen werden. Zuviele Symbole wiederum erschweren die Verständlichkeit. (Ich persönlich verabscheue logische Konnektoren, wie und/oder/nicht und Häufungen von Quantoren). Markieren Sie in Ihrem Manuskript deutlich, was Sie wie anschreiben wollen.
Wo es sinnvoll ist, setzen Sie Bilder und Skizzen ein. Mit einer guten (!) Skizze können Sie mehr Information an das Publikum weitergeben als mit langen umständlichen Sätzen. Wenn Sie eine Zeichnung anfertigen, so geben Sie sich Mühe damit: Jedes Bild sollte überlegt sein. Wie wählt man die Perspektive? Wo muß man auf der Tafel ansetzen und wieviel Platz braucht man, um die Zeichnung auszuführen? Und zeichnen Sie sauber und exakt. Natürlich setzt die Pflicht zur mathematischen Exaktheit allzu freier Phantasie Grenzen. Allerdings lohnt es sich meist, diese Grenzen auszuloten. Also Mut zum Bild!
Arbeiten Sie an Ihrem Schriftbild. Wenn das auch bei der Handschrift schwierig sein mag, für schlampig geschriebene Formeln gibt es keine Entschuldigung. Ein “alpha” muß von einem “a” unterscheidbar sein, ebenso ein “zeta” von einem “xi”, und ein “l” von einem “e”. Ein “Sigma” ist keine Zickzacklinie. Auch an der Tafel gibt es eine Grundlinie, und diese verläuft horizontal, nicht schräg nach oben oder unten. Buchstaben haben Unterlängen oder Oberlängen. Bruchstriche befinden sich auf gleicher Höhe wie Gleichheitszeichen oder Verknüpfungszeichen etc. Eine ausgeschriebene Handschrift ist sicher schöner als kindliche Druckbuchstaben. Wenn Sie aber mit Formeln Schwierigkeiten haben, kann es hilfreich sein, wenn Sie Formeln sozusagen drucken. Denken Sie wieder an unser Grundprinzip: Es ist völlig unwichtig, ob Sie Ihre eigene Schrift lesen können, das ist kein Maßstab: allein das Publikum zählt.
Aus dem, was ich bis jetzt gesagt habe, geht nebenbei hervor, daß ein mathematischer Vortrag an der Tafel stattzufinden hat. Meiner Meinung nach sind Folien nur in wenigen Ausnahmefällen erlaubt, und zwar hauptsächlich zur schnellen Illustration. D.h. Folien sind sehr gut geeignet, um Ergebnisse zusammengefaßt darzustellen, Zwischenergebnisse für die spätere Verwendung bereitzustellen, komplexe Bilder oder Graphiken schnell darzubieten. Folien haben den entscheidenden Nachteil, daß sie den Hörer in viel stärkerem Maße als die Tafel zur Passivität verdammen:
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Wer Folien benutzt, dunkelt meistens auch den Raum ab, weil man die Folien sonst nicht lesen kann. Das löst fast automatisch bei den meisten Zuhörern Schläfrigkeit aus.
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Das Mitschreiben von Folien ist viel schwieriger als von der Tafel. Das liegt erstens an den Umstellungsschwierigkeiten des Auges. Und zweitens daran, daß die Folien fast immer zu voll sind. Man beobachtet häufig als erste Reaktion des Publikums, daß die Stifte aus der Hand gelegt werden, sobald Folien aufgelegt werden.
Slogan: Mit Folien kann man informieren, aber nicht argumentieren. Für einen Folienvortrag gelten die folgenden Benimmregeln:
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Man verwende nur wenige Folien und lasse jede Folie möglichst lange liegen.
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Jede Folie darf nur wenig Text enthalten, und dieser Text muß der Reihe nach besprochen werden.
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Die Schrift auf einer Folie muß noch sorgfältiger sein als an der Tafel. Wenn man gedruckte Texte einsetzt, achte man auf die verwendeten Schriftarten. Sans Serifs-Schriften sind besser lesbar als Times-Schriften o.ä. Die sinnvolle Verwendung von Farben erhöht die Lesbarkeit enorm.
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Man darf niemals Teile der Folie abdecken und dann im Laufe des Vortrags freilegen. Die Papiere, mit denen man abdeckt, liegen nie ganz richtig auf der Folie, meistens schräg, sie neigen dazu herunterzufallen. Sie schaffen in jedem Falle Unruhe.
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Auf jeder Folie darf nur der Text stehen, der auch im Vortrag gebraucht wird.
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Stellen Sie für jeden Vortrag die Folien so, wie Sie sie brauchen, neu her.
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Folien sind in der Sprache des Vortrags zu schreiben. Daß man englischsprachige Folien in einem deutschsprachigen Vortrag einsetzt, ist eine leider zunehmende Unsitte.
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Es ist grob unhöflich, Folien wiederzuverwenden, die ganz anderen Zwecken gedient haben und denen man das anmerkt, weil sie Informationen enthalten, die gar nicht gebraucht werden, oder weil sie noch von der letzten Konferenz stammen und in Englisch geschrieben sind, jetzt aber deutsch vorgelesen werden. Die Reihe ließe sich fortsetzen.
[Zusatz: Dem vorstehenden Absatz merkt man an, daß dieser Text schon einige Jahre alt ist: Folienvorträge sind insgesamt sehr selten geworden, dafür werden Power Point Präsentationen leider immer häuiger. Selbstverständlich haben Beamerpräsentationen alle dieselben Probleme wie Folienvorträge und zusätzlich weitere: Zum Beispiel ist der Vortragende ganz an das Medium gebunden, kann Fehler nicht mehr korrigieren, was bei Folien noch geht, und kann nicht flexibel auf Zwischenfragen aus dem Publikum reagieren. Grundregel: Beamer-Präsentationen sind grundsätzlich verboten. Es sei denn, es liegen sehr, sehr gute Gründe vor. Ich kann mir fast keine vorstellen. M.L. Juni 2009]
Wenn Sie noch nie einen Vortrag gehalten haben, dann sollten Sie sich auf jeden Fall die Mühe machen, Ihren Vortrag vor einem leeren Saal oder nach Möglichkeit vor Freunden zur Probe zu halten. Sie gewinnen dabei zum einen ein Gefühl dafür, wieviel Zeit Sie brauchen. Zum anderen ist es wichtig, seine eigene Stimme zu hören und Sätze überhaupt einmal laut zu formulieren. Vielleicht haben Sie schon die Erfahrung gemacht, daß ein scheinbar sehr einleuchtendes Argument zusammenbricht, sobald man es laut formuliert, unabhängig davon, ob jemand Einwände äußert, oder daß sich umgekehrt ein Problem von selbst löst, sobald man einem anderen gegenüber laut davon spricht, auch wenn der andere nur zuhört oder rein banale Rückfragen stellt. Ein Probevortrag gibt Ihnen auch Sicherheit im Auftreten und nimmt das Lampenfieber. An einen solchen Probevortrag sollte sich immer eine kritische Überarbeitung des Manuskripts anschließen, gegebenenfalls ein erneuter Probevortrag.
Sprechen Sie frei! Das ist eine große Herausforderung und eine schwierige Hürde. Auch viele Dozenten nehmen diese Hürde nie. Natürlich geht das nicht von Anfang an. Aber nehmen Sie sich den freien Vortrag als Ziel vor. Grundvoraussetzung ist natürlich, daß Sie inhaltlich gut vorbereitet sind. (Es kann Stellen geben, wo Sie unsicher sind. Wichtig ist, daß Sie diese Unsicherheit eingrenzen können und auch nach außen zugeben können, ohne aus der Fassung zu geraten.) Wenn Sie Ihr Manuskript im Zuge der Vorbereitung in ihren verschiedenen Phasen immer wieder neu aufgeschrieben haben (schließlich bemühen Sie sich ja, die optimale Präsentation zu finden), werden Sie mit der Zeit sowieso den halben Vortrag auswendig können. Wohlgemerkt, es kommt nicht darauf an, den Vortrag auswendig zu lernen! Viel wichtiger ist, den Überblick zu behalten, an jeder Stelle des Vortrags sagen zu können, wo man gerade ist und wo es noch hingehen soll. (Daran müssen Sie das Publikum übrigens immer wieder erinnern.) Denken Sie über die folgende Frage nach: Wie soll denn das völlig unvorbereitete Publikum eigentlich einen Vortrag verstehen, wenn selbst der Vortragende nach langem gründlichen Studium des Themas ein Manuskript braucht? Nichts spricht dagegen, bei langen Rechnungen mit einem Blick auf das Manuskript zu kontrollieren, ob die Tafelrechnung korrekt ist. Auch sorgfältig formulierte Sätze und Propositionen kann man abschreiben. Aber versuchen Sie, in den Beweisen frei zu argumentieren. Benutzen Sie Ihr Manuskript mehr als Erinnerung an die Gliederung. Ein erster Schritt dazu ist, das Manuskript gelegentlich aus der Hand zu legen. Nichts ist absurder, als einen Beweis geistlos an die Tafel zu schreiben und sich dann davor zu stellen und zu rekonstruieren, warum das Argument überhaupt ein Argument ist. Aller Anfang ist schwer. Wenn Sie sich auch sicherer fühlen, wenn Sie sich an einem Stück Papier festhalten können, legen Sie es gelegentlich und dann immer öfter einfach aus der Hand. Sie werden feststellen: das befreit!
Zur Nachbereitung
Eigentlich sollte nach dem Vortrag Gelegenheit zur Diskussion sowohl des Inhalts, wie der Durchführung gegeben sein. Häufig bleibt vor lauter Mathematik keine Zeit, über den Vortrag selbst zu sprechen. Manchmal wird der Dozent darauf verzichten, über Fehler im Vortrag öffentlich zu reden. Versuchen Sie in jedem Falle eine Rückmeldung über Vortragsstil, Tafelbild usw. zu bekommen und sprechen Sie Kommilitonen, Dozenten und Assistenten darauf an. Denn nur so können Sie künftige Vorträge verbessern.
Wenn Sie Ihren Vortrag gehalten haben, ist das Seminar noch nicht vorbei. Verfolgen Sie die Vorträge Ihrer Kommilitonen aufmerksam und versuchen Sie, dabei etwas zu lernen. Wenn Sie etwas nicht verstehen, scheuen Sie sich nicht zu fragen. Denken Sie an unsere Hauptregel. Nur sind jetzt die Rollen vertauscht, und Sie sind Teil des Publikums: der Vortrag wird nur für Sie gehalten. Unterdrücken Sie keine Frage aus falsch verstandener Solidarität gegenüber dem Vortragenden. Im Mittelpunkt steht immer die Mathematik, nicht der Scheinerwerb. Nur dann sind Seminarvorträge keine Veranstaltungen, auf deren Ende man gelangweilt und ungeduldig wartet. Es bleibt noch anzumerken, daß Sie sich nicht nur auf die minimale Anzahl von Seminarvorträgen beschränken sollten, die Ihnen die Prüfungsordnung vorschreibt. Vielmehr hat Ihnen Ihr Vortrag hoffentlich soviel Spaß gemacht hat, daß Sie sich immer wieder erneut der Herausforderung neuer Themen stellen. Viel Erfolg und viel Vergnügen!